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Nachlese aus einem verwüsteten Weinberg

Nachlese aus einem verwüsteten Weinberg
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Wieder erreicht mich eine Analyse von Hans N. Weiler aus den USA, die ich hier mit seiner Genehmigung abdrucke:

Der Weinberg, der sich “United States of America“ nennt, ist so übel zugerichtet wie die Weinstöcke im Napa Valley nach den fürchterlichen kalifornischen Waldbränden der letzten Monate. Er hat seit gestern einen neuen Winzer, aber der ist um seinen Besitz nicht unbedingt zu beneiden.

Gut, Joe Biden und Kamala Harris haben gewonnen, sehr viel knapper als die wieder einmal blamierten amerikanischen Wahlforscher vorhergesagt hatten, aber doch erfolgreich in wichtigen Schlüsselstaaten im Mittleren Westen. Noch wichtiger: Donald Trump ist in einen (allerdings eher zu befürchtenden) Ruhestand verabschiedet worden, zusammen mit so unappetitlichen wie einflussreichen Gestalten wie dem Chefideologen Steve Miller, dem Schwiegersohn Jared Kushner und dem superparteiischen Justizminister William Barr. Die Freude darüber wird allerdings getrübt von der Tatsache, dass der Senat als Schlüsselkammer des parlamentarischen Entscheidungsprozesses – aller Voraussicht nach – fest in republikanischer Hand bleibt, und das heißt konkret in der Hand von Mitch McConnell, der als Chef der republikanischen Senatsmehrheit schon Barack Obama das Leben und das Regieren schwergemacht hatte. Noch viel folgenschwerer aber ist das präsidiale Wahlergebnis selbst: Während man den damaligen Trump-Wählern von 2016 noch Unkenntnis des Kandidaten Trump zugutehalten konnte, haben diesmal über 70 Millionen Amerikaner nach vier Jahren erlebter Trump-Herrschaft für seine Wiederwahl gestimmt (und an ihrem aktiven Verbleiben in diesem Lande keinen Zweifel gelassen). In dieser frappanten Demonstration von populärer Macht aber liegt nicht nur der Schlüssel zum Verständnis dieser eigentlich unglaublichen 70-Millionen starken Gefolgschaft für jemanden wie Donald Trump, sondern auch eine nicht mehr zu leugnende Feststellung über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft von heute und morgen. Diese Gesellschaft hat sich, über sehr viel mehr als vier Jahre hinweg, in einem Maße polarisiert, das sich einer Überbrückung oder gar Versöhnung – bis in Familien hinein – weitgehend entzieht. Diese Polarisierung hat ihre demographischen Korrelate (sehr aufschlussreich sind hier die von der New York Times ausführlich dokumentierten exit polls), unter denen schulischer Ausbildungsgrad, Geschlecht und (weniger eindeutig) ethnische Zugehörigkeit eine besonders wichtige, und wirtschaftliche Situation eine eher nachgeordnete Rolle spielen. Neben der Demographie spielt die Geographie eine wichtige Rolle – nicht mehr wie einst so sehr zwischen Nord- und Südstaaten, sondern heute vor allem zwischen den (Trump zugewandten) ländlichen und den (eher Biden unterstützenden) städtischen und vorstädtischen Regionen des Landes sowie zwischen den (liberaleren) Küstenregionen im Osten und Westen und dem konservativeren und sich vergessen fühlenden „fly-over country“ in der Mitte.

Diese Polarisierung hat, wie wir jetzt wissen, eine tiefsitzende und nicht erst seit gestern bestehende psychologische Dimension, die von Trump nicht erzeugt, aber überaus geschickt genutzt und geschürt und von vielen Amerikanern, die es eigentlich besser wissen sollten (uns selbst nicht ausgenommen) unterschätzt und verkannt worden ist. In ihrem Kern hat diese psychologische Dimension mit einem (zum Teil wirklichen und zum Teil eingebildeten) Überlegenheits- und Unterlegenheitsgefühl zu tun, bei dem die Unterscheidung oft mit dem Besitz oder Nichtbesitz eines College-Abschlusses einhergeht und entlang dieser Unterscheidung bei den sich unterlegen sehenden Bürgern zu einem akuten Ressentiment gegenüber den „Eliten“ der Gesellschaft führt (dessen geographische Verortung an der Ost- und Westküste zu dem inzwischen explosiv aufgeladenen Begriff der „Küsteneliten“ geführt hat). Dieses Ressentiment hat sich Donald Trump zunutze gemacht und mit durchschlagendem Erfolg sich selbst als den Champion des als unterlegen geltenden (obwohl zum Teil durchaus wohlhabenden) Teils der Bevölkerung stilisiert. Die fatale Dynamik dieses Spiels hat vor vier Jahren schon Hillary Clinton zu spüren bekommen, deren extrem unglückliche Formulierung von den „deplorables“ (den „Bedauernswerten“) der amerikanischen Gesellschaft zu einer ihre Kandidatur zunichte machenden Chiffre von herablassender Bevormundung wurde.

Die Demokratische Partei der USA hat sich, eigentlich ohne Not und entgegen ihrer eigenen sozial engagierten Geschichte, in dieses Spiel hineinziehen lassen. Willie Brown, ein ehemaliger (und als erster Afro-Amerikaner) Oberbürgermeister von San Francisco und einer der klügsten Kommentatoren, die wir kennen, hat diese Fehlleistung der Demokraten in diesen Tagen zu dem sehr guten Rat veranlasst, dass „wir aufhören sollten, den Wählern zu sagen, was sie tun sollen, und ihnen stattdessen zuhören sollten, was sie von uns erwarten“.

Wir sind in diesen Tagen, um es kurz und kompliziert zu sagen, erschöpft, erleichtert und besorgt. Erschöpft von der immer wieder von Trump geschürten Verrohung der politischen Sitten in diesem Lande in den letzten vier Jahren (ganz zu schweigen von COVID-Isolierung und den schlimmen Waldbränden um uns herum) – erleichtert, dass dieser Alptraum eines protofaschistischen Amerika fürs erste gebannt und eine berechenbarere und verantwortlichere politische Führung auf dem Weg ins Amt ist – und gleichzeitig besorgt über die vielen Stolpersteine auf dem Weg zum 20. Januar, noch mehr aber noch über die Zukunftschancen eines so abgrundtief zerstrittenen Landes; man kann sich kaum vorstellen, dass Joe Biden und Kamala Harris diesen verwüsteten Weinberg innerhalb von vier Jahren wieder zum Tragen bringen können – uns graut vor einem von Trump und seinen Truppen inszenierten Rückschlag bei den Wahlen von 2024.

Wir werden mit diesem Gemisch von Gefühlen wohl noch eine Weile leben müssen. Es kann gut sein, dass trotz des Wahlsiegs von Biden und Harris die eigentliche politische Erneuerung Amerikas von unten her zu geschehen hat – von der Ebene der örtlichen und regionalen politischen Prozesse, die jetzt schon (wie gerade hier in Kalifornien) in Fragen etwa des Klimaschutzes, der Krankenversicherung und der Infrastrukturen wichtige neue Initiativen aufweisen können. Aber es wird wohl auch des Umdenkens in den Kategorien des gesellschaftlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Gruppen und Überzeugungen bedürfen, um die fatale Polarisierung dieser Gesellschaft zu überwinden. Wenn nicht alles täuscht, steht vor diesem Problem allerdings nicht nur Amerika. 

Unsere Freunde und Weggefährten in aller Welt sind uns in diesen düsteren Tagen ein besonders wertvolles Gut, das wir uns oft und gerne in Erinnerung rufen, und denen unsere Grüße und unsere besten Wünsche gelten. Wir sollten alle miteinander und trotz allem nicht den Mut verlieren.

Hans N. Weiler, Saratoga 9. November 2020

Hans hat auf dieser Webseite zu den Trump-Jahren bereits die folgenden Analysen veröffentlicht:

Machtergreifung 21. Januar 2017

Notizen aus dem Land der unbegrenzten Trostlosigkeiten 29. Oktober 2018

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